«Tabak fliesst durch unsere Venen»
A.J. Fernandez gehört zu den Shooting-Stars der nicaraguanischen Zigarren-Industrie. Er beschäftigt 4’000 Mitarbeiter und produziert 42 Millionen Zigarren pro Jahr. Dafür zeichnete ihn das Cigar Journal mit dem Lifetime-Achievement-Award aus.A.J. Fernandez, du bist in Kuba geboren und im Alter von 23 Jahren nach Nicaragua ausgewandert.
Ich bin in Kuba aufgewachsen und kam im Jahr 2003 hierher nach Nicaragua, mit dem Wunsch, eine kleine Fabrik aufzubauen. Doch es waren schwierige Zeiten, denn damals ging gerade der sogenannte «Zigarren-Boom» zu Ende und es gab Überkapazitäten. Ich habe mir also gesagt: Um in dieser Industrie Fuss zu fassen, muss man sich von den anderen unterscheiden. Man muss die Dinge richtig machen. Es war eine sehr harte Zeit. Aber am Ende gelang mir der Start. Ich begann mit vier Zigarrenrollern. Ich war mein eigener Aufseher, ich war derjenige, der alles machte. Und von hier aus begann ich zu wachsen, mir einen Namen aufzubauen, und nach zwei Jahren produzierten wir bereits zwei Millionen Zigarren.
Lerntest du alles über den Tabak in Kuba?
Alles, was du in Kuba kennenlernst, ist der kubanische Tabak. Meine Erfahrung, die ich inzwischen gesammelt habe, basiert fast ausschliesslich auf dem, was ich hier in Nicaragua aufgebaut habe. Hier lernte ich Tabak mit unterschiedlichen Aromen und Eigenschaften kennen, Tabake aus über 18 Ländern, aus der ganzen Welt. In Kuba gab es keine Möglichkeit, diese Vielfalt kennen zu lernen.
Bist du in in einer Tabakfamilie aufgewachsen?
Ich bin in einem Dorf namens El Corojo, in San Luís in der Region Pinar del Río aufgewachsen. Mein Grossvater hatte ein kleines chinchal (deutsch: kleine Zigarrenproduktion), das jedoch illegal war. Aber gut, ich wuchs an einem Ort auf, in welchem es vor mir Tabak gab, hinter mir gab es Tabak, ebenso wie links und rechts. Alles war Tabak. Ich bin also gewissermassen inmitten von Tabak aufgewachsen. Und was mir am meisten am Tabak gefällt: Ich sah ihn von klein auf und ich fühlte mich immer zu ihm hingezogen.
Machtest du in Kuba eine Ausbildung?
Ich absolvierte eine normale Ausbildung und lernte die Grundlagen, die eigentlich jeder kennt. Aber bis du selber ein Tabak-Blender wirst und alles beherrschst, musst du viel wissen. Genauso wie ein Koch: Man muss die verschiedenen Aromen und die unterschiedlichen Tabaksorten kennen.
Viele Fabriken, die hier in Nicaragua Erfolg haben, wurden von Kubanern gegründet. Warum ist das so?
Weil wir die Erfahrung hatten und, nun ja: der Tabak fliesst durch unsere Venen.
Was war dein erster Eindruck, als du zum ersten Mal den Tabak von hier gesehen und probiert hast?
Denk daran, dass der Tabak von hier sich deutlich von jenem Kubas unterscheidet. Der kubanische Tabak ist aromatisch. Jener von hier hat mehr Charakter und Persönlichkeit als jeder andere Tabak. Wir befinden uns hier in einem Tal und säen den Tabak in tierra gorda, wie wir Kubaner sagen. Deshalb wächst der Tabak hier sehr fettig, sehr kraftvoll, und ich fühlte mich davon angezogen, weil diese Charakteristik mir persönlich gefällt. Hier hat sich meine Leidenschaft endgültig entzündet und ich wusste: Hier möchte ich meine eigene Fabrik gründen.
Wie hast du deinen eigenen Stil gefunden und entwickelt?
Viele Produzenten und Kollegen machen ihre Arbeit hier wirklich sehr gut. Ich persönlich bin sehr traditionell. Man könnte sagen: Ich bin ein Kolonialist Kubas. Ich befolge die gleichen Verfahren, gebe dem Tabak die Zeit, die er braucht und versuche die Dinge so traditionell wie möglich zu halten. Dies führte mich zum Erfolg. Die Tabake so lange reifen zu lassen wie nötig, mein eigenes Saatgut anzubauen, alles mit Blick auf den kleinen Unterschied zu machen.
Nach zwei Jahren erreichtest du ein Produktionsvolumen von zwei Millionen Zigarren. Gab es Leute, die dich am Anfang unterstützten?
Ja sicher, meine ganze Familie. Nestor Plasencia ist mein Cousin, wir haben eine sehr enge Verbindung. Ich schätze ihn sehr und habe sehr viel Respekt für seine Familie. Immer, wenn ich ein bisschen Geld übrighatte, dachte ich nur daran, das Unternehmen zu vergrössern. Ich kaufte zum Beispiel eine kleine Farm. Hätte ich am Anfang das Geld verschwendet und ausgegeben, hätte ich heute nichts, verstehst du? Heute bin ich mein eigener Herr; wir produzieren 93% aller Tabake, die wir in unseren drei Fabriken verarbeiten, selber. Das ist das Ergebnis der Arbeit, die über viele Jahre geleistet wurde.
Heute beschäftigst du 4’000 Mitarbeiter und produzierst 42 Millionen Zigarren pro Jahr?
Exakt.
Und wächst das Unternehmen immer noch?
Nein. Wir haben die Grenze erreicht und können nicht mehr weiterwachsen. Jeder Tag, der vergeht, macht die Arbeit schwieriger. Es gibt keinen Boden mehr und es gibt auch keine Arbeiter mehr. Es wird alles komplizierter. Unsere Struktur ist für dieses Volumen ausgelegt, mehr ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich.
Wann wurde dieses Niveau erreicht?
Etwa zwei Jahre vor der Pandemie.
Wie fanden die kubanischen Hersteller heraus, wo man in Nicaragua am besten Tabake anpflanzt?
Nicaragua lässt sich in vier Regionen unterteilen: Estelí, Condega, Jalapa und Ometepe. Alle haben ihre Eigenheiten. Das Klima in der Jalapa-Region war in den Sechzigerjahren dem kubanischen Klima sehr ähnlich. Die Böden sind sandig wie in Kuba. Deshalb entschieden die Kubaner damals, ihren Tabak dort zu säen. Und tatsächlich hatten sie sich nicht geirrt, es wuchs ein sehr aromatischer Tabak mit viel Geschmack. Sie waren es, die uns den Weg ebneten.
Ist die einheimische Bevölkerung heute zufrieden, dass ihr hier seid?
Ja sicher, wir bringen viel Beschäftigung. Die Wirtschaft läuft gut, alles ist gut.
Integrieren sich die kubanischen Produzenten? Seid ihr in der Politik aktiv?
Nein, nein, nein. Unsere Aufgabe ist unsere Arbeit.
Wie gehst du vor, wenn du eine neue Zigarrenlinie entwickelst?
Nehmen wir zum Beispiel die New-World-Dorado-Linie: Vor fünf Jahren erwarb ich die Dorado-Farm. Es ist eine Farm mit einem so ehrlichen Boden und mit so reichhaltigen, aromatischen Tabaken, dass wir entschieden haben, eine Linie mit 100% Tabaken von dieser Farm zu entwickeln. Das Ziel war, unseren Kunden die Charakteristik dieser Tabake zu zeigen.
Welche Schritte durchläuft der Tabak von der Ernte bis zur Zigarrenfertigung?
Zunächst kommt der Tabak auf die finca und was wir als erstes machen ist die Klassifizierung: Wir unterscheiden die Blattstufen Volado, Seco, Viso und Ligero. Volados ernten wir praktisch nicht mehr. Die Zigarren, die heute beliebt sind, haben Charakter und Persönlichkeit. Und was kann ein Volado dir für ein Aroma geben? Das Aroma bringen wir mit dem Seco hinein. Und wenn man die unteren Blätter der Pflanze entfernt, erhalten die Blätter weiter oben mehr Körper und mehr Fettigkeit und das ist es, was wir suchen.
Auf der finca tritt der Tabak, in Ballen verpackt, in eine sehr langsame Phase der Fermentation ein. Die Mittelrippe wird noch nicht entfernt, so können wir die aromatische Intensität steigern. Nach einem Jahr, eineinhalb Jahren, manchmal auch zwei, nehmen wir die Blätter und entfernen die Mittelrippen. Anschliessend folgt eine andere Form der Fermentation: wir befeuchten die Tabake und schichten sie zu Stapeln. Hier bleibt der Tabak zwischen 30 und 60 Tagen, abhängig davon, wohin wir ihn führen möchten. Beim Tabak ist es wie beim Essen: Wenn du ihm zu viel gibst, verschwendest du etwas, und wenn du ihm zu wenig gibst, schmeckt er scharf und bitter. Man muss also damit spielen.
Nach diesem Vorgang verpacken wir den Tabak in Ballen, wo er vor der Verarbeitung mindestens sechs Monate ruht. Das bedeutet, zwischen dem Eintreffen des Tabaks und bis er uns wieder verlässt, dauert es drei oder vier Jahre. Und andere Tabake haben wir bis dahin noch gar nicht angefasst. Deshalb siehst du in unseren Lagern so viel Tabak.
Viele deiner Tabake schmecken pikant.
Der Tabak beisst dich, je nachdem, wie er fermentiert wurde. Es gibt Zigarren, bei welchen wir das Pikante bewusst suchen.
Was ist das Konzept der Zigarre, die zum 20-jährigen Jubiläum des Unternehmens erschienen ist?
Wir versuchten, den Weg dieser 20 Jahre zusammenzufassen und einen Blend zu machen, der alle unsere fincas repräsentiert.
Welche Trends und Entwicklungen siehst du zurzeit im Markt?
Konsumenten in den Vereinigten Staaten und Europa suchen nach Aroma, Geschmack und Zigarren mit Persönlichkeit. Der chinesische Markt will leichtere Zigarren.
Was vereint die unterschiedlichen Zigarren der Serien New World und Enclave?
Als wir die Marke New World kreierten, öffneten wir für die Konsumenten eine neue Welt. Es handelte sich um Zigarren, die normalerweise etwa 20 Dollar gekostet hätten, und wir boten sie für die Hälfte an. Das war die Basis für die Linie. Für alle Namen und alle Linien.
Wie entwickelte sich die Nachfrage in den letzten Jahren?
Wir wuchsen stark. Wir sind so stark gewachsen, wie wir es uns nur wünschen konnten. Warum? Weil der Markt unsere Produkte angenommen hat. Vielen Dank an alle Kunden, sie haben uns in die Position gebracht, in der unsere Zigarren bestellt und bestellt und bestellt werden, jeden Tag.
Umso mehr bin ich überrascht, dich sorgenvoll anzutreffen.
Wir haben Inflation, die Kosten sind heute sehr hoch. Und wer wird das am Ende bezahlen: der Konsument. Aber es gibt so viel Wettbewerb, dass du nicht einfach alle steigenden Kosten auf die Kunden abwälzen kannst. Wir haben auch eine Verpflichtung unseren Kunden gegenüber und man muss sie gut behandeln. Deshalb ist das Geschäft im Moment schwierig. Was uns auch Sorgen bereitet, ist die Emigration Richtung Vereinigte Staaten. Aber gut. Wir werden nie müde und versuchen immer, das Beste zu geben und unsere Kunden zu unterstützen, indem wir ihnen unsere Produkte liefern. Wir haben unsere Ausbildungsbemühungen intensiviert. In unserer Roller-Schule lernen neue Mitarbeiter innerhalb eines Jahres die Kunst der Zigarrenfertigung.
Füllen Kubaner die Lücken, welche die Nicaraguaner, die das Land verlassen, hinterlassen?
Die Nicaraguaner gehen in die USA und die Kubaner ebenso. Und ohne Papiere können wir den Kubanern keine Arbeit geben.
Und ist es für Kubaner möglich, eine Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung zu bekommen?
Es braucht seine Zeit.
Neulich veröffentlichtest du in den Sozialen Medien: «Es ist nicht jener am glücklichsten, der am meisten hat, sondern jener, der am wenigsten braucht». Wie kommt das bei deinen Mitarbeitern an?
Ich zeige ihnen einfach, wie ich denke. Es gibt Momente im Leben, in welchen materielle Sachen dich nicht glücklich machen. Manchmal ist der innere Frieden wichtiger und die Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein und dass sich alles in einen Erfolg verwandelt. Wenn sich das erfüllt, gibt mir dies mehr Zufriedenheit als etwas Materielles.
Die kubanische Zigarrenindustrie hat Schwierigkeiten. Was passiert, wenn eines Tages das derzeitige System nicht mehr überlebt? Habanos SA verfügt über einen Exklusiv-Vertrag für den Export aller kubanischen Zigarren mit einer kolportierten Laufzeit von 100 Jahren. Währenddessen seid ihr Kubaner hier in Nicaragua äusserst erfolgreich. Denkst du über eine Rückkehr nach?
Ich weiss es nicht… weil: Kuba ist Kuba, verstehst du? Ich weiss es wirklich nicht. Ich habe keine Meinung dazu, weil ich nicht weiss, wer welche Pläne hat und was passieren wird.
In unserer Branche bist du eine bekannte Persönlichkeit, dein Name wurde zu einer Marke. Wofür steht A.J. Fernandez?
Die Marke A.J. Fernandez steht für die Leidenschaft, die ich für den Tabak empfinde, meine Liebe und meine Disziplin, welche ich aufbringe, um gute Zigarren zu fertigen.
Hättest du dir vor 20 Jahren vorstellen können, was in deinem Leben passieren würde?
Nein, das hätte ich mir niemals vorstellen können, es wurde alles viel grösser. Aber wir arbeiten immer, nicht um grösser zu werden, sondern um unseren Kunden die Qualität zu liefern, welche sie verdienen, zum besten Preis, der möglich ist. Dies führte zu unserem enormen Wachstum.
Welche Zigarren rauchst du persönlich gerne?
Tagsüber rauche ich die aktuelle Produktion, um die Qualität zu prüfen. Manchmal schmecken Zigarren verschieden, obwohl sie auf derselben Mischung basieren, oder es gibt Probleme bei der Verarbeitung. Das findet man nur heraus, wenn man sie probiert und raucht.
Ich rauche auch zum Genuss, aber nicht tagsüber. Am Abend ja. Eine Zigarre, genussvoll geraucht nach einem guten Abendessen, im Kreise der Familie, das ist für mich der schönste Moment, den es gibt.